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Einleitung
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts begann sich der Weg einer neueren Musik abzuzeichnen, die sich von der Mendelssohnschen und Schumannschen Ästhetik abgrenzte. Carl Reinecke (1824-1910) jedoch, als Komponist, Pianist, Dirigent, Pädagoge und Publizist vielseitig tätig, gehörte zu den Verfechtern der konservativen Stilrichtung von Felix Mendelssohn Bartholdy und Robert Schumann, was ihn jedoch nicht hinderte, in seinen späten Kompositionen durchaus eigenständige, vom klassischen Vorbild abweichende formale Lösungen zu entwickeln.
Reinecke komponierte Klavierwerke unterschiedlicher Gattungen, z. B. Solostücke, Werke zu vier Händen und Orchesterwerke mit Klavier. Laut eigener Aussage und in Anbetracht seines gesamten Œuvres zählen die Kompositionen für Klavier und Orchester zu seinen wichtigsten Werken: das Konzertstück op. 33 und die vier Klavierkonzerte op. 72, 120, 144 und 254, die alle in der langen Schaffensperiode von 1848 bis 1901 komponiert wurden. Reinecke führte die meisten seiner Werke selbst auf.
Die Bedeutung, die das Klavier für Reinecke hatte, spiegelt sich nicht nur in der großen Anzahl seiner Werke für dieses Instrument wider, sondern auch in seiner Position als Lehrer für Komposition und Klavier am Leipziger Konservatorium wider. In dieser geachteten und einflussreichen Position war er zwischen 1860 und 1902, also über vier Jahrzehnte lang tätig. Schaut man sich demgegenüber das heutige Konzertrepertoire an, wird ersichtlich, dass Reinecke in der Klavierliteratur relativ vernachlässigt wird. Viele seiner Werke fehlen zudem in der Forschungsliteratur bzw. finden nur wenig Beachtung, obwohl das Klavierkonzert des 19. Jahrhunderts eine weithin erforschte und viel diskutierte Gattung darstellt. Mit der vorliegenden Arbeit soll eine Lücke hinsichtlich der Klavierkonzerte Reineckes in der Forschungsliteratur gefüllt werden, indem der historische und analytische Aspekt veranschaulicht und dargestellt wird.
Fragestellungen
Reinecke war ein arbeitsamer Komponist, der knapp dreihundert Werke mit Opuszahl veröffentlicht hat. Daneben stand für ihn zeit seines Lebens die Tätigkeit als Pianist. Hat sein Wirken als Interpret die Produktion und die Rezeption der Konzerte beeinflusst? In den Uraufführungen seines Konzertstücks und seiner ersten drei Klavierkonzerte trat er selbst als Solist auf. Zudem unternahm Reinecke als Pianist zahlreiche Konzerttourneen, und zwar nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch ins Ausland, wie etwa nach Österreich, Holland, Großbritannien, Polen, in die Schweiz etc. Untersucht werden soll daher, ob er die genannten Klavierwerke währenddessen aufführte und wie er bei seinen Auftritten bewertet wurde. Er zählt auch zu den wenigen Pianisten des 19. Jahrhunderts, die überhaupt eine Aufnahme auf dem Welte-Mignon-Reproduktionsklavier eingespielt haben.
Ferner zeichnete sich Reinecke, dessen musikalische Erziehung durch die Werke der Wiener Klassik geprägt war, durch die überzeugende Interpretation von Wolfgang Amadeus Mozarts Werken aus. Zu seinen bekanntesten Interpretationen gehört der zweite Satz von Mozarts Klavierkonzert KV 537 D-Dur. Darüber hinaus schrieb er über die Interpretation dieser Konzerte das Buch „Zur Wiederbelebung der Mozart’schen Clavier-Concerte“. In dieser Arbeit beschäftige ich mich somit auch mit Reineckes Charakteristika als Pianist und insbesondere mit seinen Mozart-Interpretationen. Denn sein kompositorischer Stil ist vermutlich von Mozarts Vorbild beeinflusst.
Im größten Teil der Forschungsliteratur wird Reineckes Kompositionstechnik nicht thematisiert, überdies mangelt es insgesamt an Studien über seine Klavierwerke. Daher lege ich in dieser Arbeit erstmals eine Analyse seines Konzertstücks und seiner vier Klavierkonzerte vor, um die kompositorische Konzeption zu durchleuchten und die Eigenarten seiner Tonsprache zu erklären. Reinecke als Verfechter des Ideals absoluter Musik folgte in seinen Werken dem kompositorischen Ideal der barocken Polyphonie und der Wiener Klassik. Daher wurden seine Werke bereits von den Zeitgenossen als konservativ eingeschätzt. Aufgrund seiner Vorliebe für die Werke Mendelssohns und Schumanns wurde ihm darüber hinaus vorgeworfen, dass er deren Stil nachahme, was ihm den Ruf eines Epigonen einbrachte. Angesichts dessen wird in dieser Arbeit untersucht, ob das Konzertstück und die vier Klavierkonzerte nur unter dem Einfluss von Mendelssohn und Schumann stehen oder ob auch Kompositionsmerkmale anderer Zeitgenossen feststellbar sind. Zeit seines Lebens repräsentierte Reinecke die konservative Leipziger Schule. Waren seine Werke folglich konservativ, oder hat Reinecke auch dazu beigetragen, etwas Neues zu schaffen? Wie war seine Beziehung zur Neudeutschen Schule? In seiner Autobiographie erklärte Reinecke, dass er schon früh versucht habe, sich dem Einfluss Mendelssohn und Schumanns zu entziehen. Kann möglicherweise letztlich der Vorwurf des Epigonentums und des Eklektizismus entkräftet werden?
Schließlich soll in dieser Studie Reineckes Rezeption als Pianist, die Verbreitung seiner Werke vor dem geschichtlichen Hintergrund sowie seine Sicht auf die Gattung Konzertstück und Klavierkonzert bzw. seine Konzeption derselben dargestellt werden. Um den genannten Fragen nachzugehen, benutzt diese Arbeit historische wie analytische Methoden.
Gliederung
Die vorliegende Dissertation ist in fünf Kapitel gegliedert. Dem Einstieg dient das erste, biographische Kapitel über Reineckes Lebensweg als Pianist, in dem auch sein Repertoire und sein Spielstil analysiert werden. Hierdurch soll die Beziehung zwischen seinen Karrieren als Pianist und Komponist näher erläutert werden. Reinecke hatte in Leipzig eine vielseitige Funktion inne, unter anderem arbeitete er sowohl als Dirigent wie auch als Pianist des Gewandhauses (1860-95). Als Pianist spielte Reinecke die meisten seiner Werke selber, als Dirigent brachte er auch seine Orchesterwerke häufig auf die Bühne. Sein Vertrag mit dem Gewandhaus verpflichtete ihn dazu, zweimal im Jahr als Pianist an Konzert- und Kammermusikprogrammen teilzunehmen. Im Allgemeinen wird ersichtlich, dass Reineckes Klavierkonzerte zwischen 1860 und 1910 in Leipzig häufig aufgeführt wurden, während man sie danach nur noch selten hörte. Deswegen habe ich eine Statistik der Aufführungen Reineckes als Pianist und seiner Werke im Leipziger Musikleben zusammengestellt, die den genauen Sachverhalt verdeutlicht.
Die Kapitel II bis V widmen sich den Werken für Klavier und Orchester unter historischen und analytischen Aspekten in chronologischer Reihenfolge. Die grundlegenden Fakten zur Entstehungs- bzw. Rezeptionsgeschichte sowie Informationen zu den Uraufführungen werden zu Beginn des jeweiligen Kapitels vorausgeschickt.
Im zweiten Kapitel setze ich mich mit dem in der frühen Schaffensphase entstandenen Konzertstück für Klavier und Orchester op. 33, seiner Entstehungsgeschichte und dem „Konzertstück“ als Gattung, auseinander.
Das dritte Kapitel schildert Reineckes Durchbruch in der Orchestermusik anhand seines Ersten Klavierkonzerts. Dieser Durchbruch stellte sich erst mit dem Beginn von Reineckes Kapellmeistertätigkeit in Leipzig ein, also ab dem Jahr 1860. Im analytischen Teil werden vier seiner kompositorischen Charakteristika behandelt.
Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit den beiden Klavierkonzerten op. 120 und 144, die in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts komponiert wurden. In dieser Zeit lag Reinecke bereits im Streit mit der Neudeutschen Schule. Daher wird thematisiert, in welcher Beziehung er zu ihr und ihren Vertretern stand und inwiefern seine Beteiligung am Parteienstreit dazu beitrug, dass seine Werke an Beliebtheit verloren.
Das letzte Kapitel behandelt Reineckes letztes Klavierkonzert op. 254, das als einziges nicht durch den Komponisten selbst uraufgeführt wurde. Da das Werk eher einem pädagogischen Zweck als der Darstellung von Virtuosität diente, befasse ich mich an dieser Stelle vorwiegend mit dem pädagogischen Wirken Reineckes.
Das Konzertstück und die Klavierkonzerte werden jeweils einer ausführlichen Analyse unterzogen. Dabei werden die äußere Form sowie Melodik, Rhythmus, Satzstruktur, Harmonik etc. betrachtet, um zunächst die Musiksprache Reineckes besser zu verstehen. Des Weiteren werden die Kerngedanken seiner Musikästhetik herausgearbeitet und aufgezeigt, welche Formen und Techniken für Reinecke als Komponisten charakteristisch sind. Anhand zeitgenössischer Rezensionen wird die Rezeption seines Schaffens für Klavier und Orchester beleuchtet.
Stand der Forschung und Quellenlage
Bis heute werden Reineckes Klavierkonzerte lediglich in Handbuchartikeln über das Klavierrepertoire oberflächlich erwähnt, eingehende Forschungen sind praktisch nicht vorhanden. Um die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte dieser Werke darzustellen, werden hier Materialien wie Notenausgaben, Programmzettel und Abhandlungen über Reinecke sowie deutschsprachige Rezensionen in Zeitungen und Musikzeitschriften (Allgemeine musikalische Zeitung, Neue Zeitschrift für Musik, Signale für die musikalische Welt, Musikalisches Wochenblatt etc.) herangezogen. Da er viel im Ausland aufgetreten ist, ist anzunehmen, dass darüber hinaus nicht wenige Berichte oder Artikel über Reinecke in Zeitschriften anderer europäischer Länder zu finden sind, wie etwa Frankreichs und Großbritanniens. Die Quelle für diese Auftritte, Reineckes Autobiographie, enthält dazu jedoch oft keine genauen Daten, so dass es im zeitlichen und räumlichen Rahmen dieser Arbeit unmöglich war, alle diese Rezensionen vollständig zu sammeln. Lediglich zwei französische Artikel über den Pianisten Reinecke aus dem Pariser Journal „La France musicale” sind in diese Arbeit einbezogen.
Reineckes Autobiographie „Erlebnisse und Bekenntnisse”, die er ca. 1902 verfasst hat, ist eine wichtige Quelle für diese Arbeit. Er berichtet darin auch über positive und negative Kritiken zu seinen Werken und Interpretationen, die sich zum großen Teil durch andere Quellen bestätigen lassen. Zahlreiche Details, wie z. B. Aufführungsorte und -zeiten, werden lediglich in diesen Memoiren erwähnt. Außerdem findet man hier seine persönlichen Ansichten zu den im vierten Kapitel thematisierten Konflikten mit der Neudeutschen Schule.
Reinecke hat von 1886 bis zu seinem Tod zahlreiche andere Schriften veröffentlicht, u.a. „Zur Wiederbelebung der Mozart’schen Clavier-Concerte“ (1891) und „Die Beethoven’schen Clavier-Sonaten“ (1895), ferner Zeitschriftenaufsätze, wie z. B. „Drei Jahrhundertfeiern in Sicht“ (1908) und „Mendelssohn und Schumann als Lehrer“. Zusätzlich schrieb er eine Reihe biographischer Aufsätze bzw. kurze Artikel über große Komponisten und ihre Werke seiner Zeit, unter anderem über Franz Liszt, Mendelssohn, Robert und Clara Schumann, Heinrich Wilhelm Ernst und Johannes Brahms sowie die Porträtsammlung „Und manche liebe Schatten stiegen auf“ (1900, 21910). Einige dieser Komponistenporträts hat Doris Mundus in ihre Ausgabe von Reineckes Biographie aufgenommen.
Die meisten Schriftzeugnisse Reineckes und die Manuskripte seiner im Musikverlag Gebrüder Reinecke erschienenen Werke wurden während des Zweiten Weltkrieges vernichtet. Jedoch sind einige an den Vater adressierte Briefe, die der Komponist in seiner Autobiographie wiedergibt, erhalten geblieben. Bei der Recherche nach schriftlichen Zeugnissen muss man sich aber vor allem auf Briefeditionen anderer Komponisten stützen, um Aufschluss über Reineckes Gedanken zu erhalten oder Hintergründe rekonstruieren zu können. Unter anderem sind die Briefsammlungen von Liszt, Schumann, Ferdinand Hiller und Brahms zu erwähnen. Unter Liszts Briefen befindet sich eine auf Deutsch verfasste Korrespondenz mit Reinecke. Der restliche auf Französisch verfasste Schriftwechsel sowie Briefe von Schumann, die bezüglich des frühen Schaffens Reineckes relevant sind, werden im Anhang dieser Arbeit in Übersetzung wiedergegeben. Über das Verhältnis Reineckes zur Neudeutschen Schule gibt ein Briefaustausch mit Hiller Aufschluss, während der Briefwechsel mit Brahms von einer von Freundschaft und gegenseitigem Respekt geprägten Beziehung zeugt.
Die größte Sammlung gedruckter Kompositionen Reineckes wird in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek Kiel aufbewahrt. Sowohl dort als auch in der Bibliothek der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig befinden sich die Notenmaterialien seines Konzertstücks und der vier Klavierkonzerte. Die Manuskripte seiner Werke jedoch sind durch Bombeneinwirkung des Zweiten Weltkriegs nicht mehr vorhanden. Ein vollständiges Werkverzeichnis von Reinecke, das zur Zeit auf der nach ihm benannten Website zu finden ist, wird voraussichtlich in naher Zukunft von Ute Schwab in gedruckter Form publiziert werden. Die von dem Ururenkel Stefan Schönknecht initiierte und betreute Carl Reinecke-Website bietet darüber hinaus weitere relevante Informationen wie Biographie, Diskographie, Bilder, heutige und damalige Berichte sowie aktuelle Nachrichten. Der Programmzettel der Leipziger Uraufführung des Vierten Klavierkonzerts stammt aus dem Archiv der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig.
Zur Sekundärliteratur, die für diese Arbeit ausgewertet wurde, gehören auch Schriften, die zum Teil noch aus Reineckes Lebenszeit stammen. Eine wichtige Quelle aus dem 19. Jahrhundert ist die Biographie „Carl Reinecke – sein Leben, Wirken und Schaffen – ein Künstlerbild“, die sein Zeitgenosse Joseph Wilhelm von Wasielewski 1892 verfasst hat. 1909 präsentierte Theodor Müller-Reuter in seinem „Lexikon der deutschen Konzertliteratur“ zahlreiche Informationen zu Reineckes Orchestermusik im Hinblick auf Uraufführung, Erscheinungsdatum der Partitur und Besetzung. Berichte und Rezensionen von Zeitgenossen über Reineckes Aufführungen und Interpretationen helfen, Umfeld und Karriereverlauf des Komponisten auszuleuchten und so insbesondere sein Verhältnis zur Neudeutschen Schule nachvollziehbar zu machen. Erwähnenswert sind hier besonders „Aus Leipzigs musikalischer Glanzzeit. Erinnerungen eines Musikers“ von Alfred Richter (1913) und „Musikalische Essays und Erinnerungen“ von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (vor 1898). Als wichtige Quelle für die Statistik der Auftritte Reineckes im Gewandhaus diente Alfred Dörffels „Geschichte der Gewandhauskonzerte zu Leipzig vom 25. November 1781 bis 25. November 1881“, die 1884 veröffentlicht wurde. Eine Fortsetzung findet sich bei Johannes Forner, „Die Gewandhauskonzerte zu Leipzig 1781-1981“ (1981), die die Statistiksammlungen nach 1881 enthält.
Ende des 20. Jahrhunderts wurden mehrere umfangreiche Studien über Reinecke und seine Werke veröffentlicht, jedoch wird sein Klavierwerk darin selten behandelt. Die Schrift „Carl Reinecke und das Leipziger Gewandhaus“ von Katrin Seidel (1998), welche die Biographie Reineckes chronologisch und systematisch beschreibt, stellt jedoch eine wichtige Grundlage für die heutige Forschung dar, insbesondere wird die damalige Situation Reineckes mit Briefaussagen von ihm und der Gewandhausdirektion dokumentiert. Die Dissertation von Matthias Wiegandt „Vergessene Symphonik? Studien zu Joachim Raff, Carl Reinecke und zum Problem der Epigonalität in der Musik“ (1995) enthält eine ausführliche Werkanalyse der Ersten Sinfonie in A-Dur op. 79 von Reinecke. Alle diese Quellen waren eine wichtige Basis für die Erforschung von Reineckes Schaffen für Klavier und Orchester.
Abkürzungen:
AmZ = Allgemeine musikalische Zeitung
MGG2 = Die Musik in Geschichte und Gegenwart; zweite, neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher. Sachteil: 9 Bde. und Registerband, Kassel: Bärenreiter, 1994-1999. Personenteil: 17 Bde. und Registerband, Supplement, Kassel: Bärenreiter, 1999-2008.
MW = Musikalisches Wochenblatt
NBM = Neue Berliner Musikzeitung
New Grove = The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Second Edition, hg. von Stanley Sadie. 29 Bde., London: Macmillan, 2001.
NZfM = Neue Zeitschrift für Musik
RMT = Rheinische Musik- und Theaterzeitung
Signale = Signale für die musikalische Welt
以上內容節錄自《Studien zu Carl Reineckes Schaffen für Klavier und Orchester》Hui-Mei Wang(王惠眉)◎著.
白象文化出版
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